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Wieso wir Genozide ignorieren

Ein Toter ist eine Tragödie, Tausend Tote sind eine Statistik. Diesen Satz als Einleitung zu verwenden, ist zugegebenermaßen ziemlich stumpf. Es ist ein Satz der sich enormer Beliebtheit erfreut, ist er doch einfach zu rezitieren und beinhaltet viel Wahrheit. Doch in der Verwendung dieses Zitats steckt auch eine tragische Ironie: Tausendmal gehört, aber tausendmal ist nichts passiert.

„Nie wieder“, schrien und schrieben die Leute nach dem Holocaust. „Nie wieder“, schreien und schreiben die Leute auch heute noch jedes Jahr bei Gedenkfeiern zu diesem schrecklichen Ereignis. Doch aus „Nie wieder“ wurde der Genozid in Kambodscha in den 1970er Jahren. Daraus wurden der Genozid in Ruanda im Jahre 1994, der Genozid in Zimbabwe im Jahre 2000 und der Genozid in Darfur, der im Grunde bis heute nicht beendet ist.

Das Problem: Die Debatte ist mit dem obigen Zitat meist beendet. Niemand denkt weiter, wieso Tausend Tote nur eine Statistik sind. Niemand überdenkt, was man tun kann, damit sie zu mehr als einer Statistik werden.

Am 28. April 1994 erfuhr die Welt erstmals vom grausamen systematischen Morden in Ruanda. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits um die 200.000 Menschen massakriert worden. Bis die UN es nach zweieinhalb Monaten schaffte endlich weitere Truppen in das Krisengebiet zu schicken, sind weitere 600.000 Menschen dem brutalen Genozid zum Opfer gefallen.

Wie ist es möglich, dass wir in Anbetracht eines derartigen Ereignisses so unbeteiligt waren? Natürlich spielt Distanz und fehlende direkte Betroffenheit eine Rolle. Doch im Zuge von Umweltkatastrophen wie dem Tsunami, der im Dezember 2004 in Südasien wütete, schaffen wir es auch zumindest einige Mittel zu mobilisieren und Mitleid zu empfinden.

Eine Lösung für dieses Phänomen liefert der US-Psychologe Paul Slovic in seinem Paper „«If I look at the mass I will never act»: Psychich numbing and genocide“.

Für ausschlaggebend hält er die Theorie des Affekts. Ein Großteil unseres Denkens wird von einer emotionalen Reaktion auf Reize ausgelöst. Diese emotionale Reaktion drückt sich dabei nicht unbedingt in starken Gefühlen aus, steuert aber unterbewusst Entscheidungen und Handlungen.

Ein entscheidender Grund für unsere unverständliche Reaktion auf viele Genozide der Vergangenheit ist mit Sicherheit eine minderwertige mediale Präsentation. Im gesamten Jahr 2004 wurden dem Genozid in Darfur im US-amerikanischen TV-Sender ABC gerade einmal 18 Minuten geschenkt, NBC widmete diesem Thema lediglich 5 und CBS 3 Minuten. Im Gegensatz zu natürlichen Katastrophen mögen also gewisse makropolitische Überlegungen dazu führen, dass man Genozide und andere Schandtaten weniger publik macht.

Für den Affekt sind aber Bilder und Wiederholung ganz entscheidend. Nur wenn emotionale Bilder in regelmäßigen Abständen unsere Aufmerksamkeit erregen, wird man uns zum Handeln bewegen können.

Schon im 19. Jahrhundert hat der deutsche Physiologe Ernst Heinrich Weber erkannt, dass Reiz und Sinneswahrnehmung in keinem linearen Verhältnis zueinander stehen. Bei einer niedrigen Laustärke merkt man auch kleine absolute Veränderungen, wenn die Lautstärke ohnehin schon sehr hoch ist, muss sie um viel mehr erhöht werden, damit wir Menschen das bemerken.

Slovic geht davon aus, dass das gleiche Phänomen auch unseren Affekt beeinflusst. Tatsächlich wurde diese Annahme in diversen Studien belegt. In einer Studie fragte man Teilnehmer, wie viele Menschen aus einer Risikogruppe von einem Medikament geheilt werden müssen, damit ein Investment von 10 Millionen US-Dollar in dieses Medikament gerechtfertigt ist. Wenn es um eine Risikogruppe von 15.000 Menschen ging, lag der Durschnitt bei ca. 9000 Personen, die das Medikament heilen musste. Als es um eine Risikogruppe von 290.000 Menschen ging, lag der Durchschnitt plötzlich bei 100.000.

Da unser Effekt sehr stark evolutionär geprägt ist, hat er logischerweise seine Schwierigkeiten damit, große Zahlen zu verarbeiten. Daraus ergibt sich der Effekt, dass ein hoher Prozentsatz oft wichtiger ist als eine hohe absolute Anzahl. Wenn also zweitausende Menschen gerettet werden, ist das für den Affekt viel zu abstrakt. Wenn 80% von 1000 Betroffenen gerettet werden, ist das hingegen durchaus positiv und recht leicht zu evaluieren.

Der letzte Punkt den man nach Paul Slovic noch zum anfangs genannten Zitat ergänzen müsste ist, dass schon 2 Tote mehr Statistik sind als einer. In einer Studie, bei der es um tatsächliche Spendenbeiträge ging, bot man manchen Teilnehmern an, für ein einziges Kind zu spenden. Dazu gab es die Geschichte und das Bild dieses Kindes. Wenn man zwei derartige Profile zusammenfügte und den potentiellen Spendern anbot, für beide etwas Geld zu geben, spendeten die Leute weniger für beide zusammen als jeweils für die Individuen.

Schon alleine, dass es zwei Kinder statt einem gab, hat den Affekt verändert. Übrigens wirkte es sich auch negativ aus, dem Profil der Kinder Statistiken zu dem gesamten Ausmaß der jeweiligen Krise beizufügen.[i]

Im Umgang mit Genoziden und anderen Krisen, die wir in der Vergangenheit mehr schlecht als recht bewältigt haben, empfiehlt Slovic eine intensive mediale Auseinandersetzung, die der Relevanz der Thematik in Bezug auf die Sterbezahlen gerecht wird. Dazu darf man auch die Kraft von Einzelfällen nicht unterschätzen und muss Personen wie der Poetin Emtithal Mahmoud, die den Genozid in Darfur als Kind erlebte, eine Stimme geben.

Doch in Anbetracht der unfassbaren und tragischen Irrationalität, mit welcher wir Genozide in der Vergangenheit behandelt haben, sind diese Maßnahmen nicht ausreichend. Es muss viel klarere und stringentere Richtlinien rund um das Thema der Genozide geben.

Wenn uns also Denken und Emotion im Moment der Tragödie zu keinem Handeln bewegen können, braucht es Gesetze, die uns zu derartigem Handeln zwingen.

Zum Weiterlesen und Weiterhören:

http://journal.sjdm.org/7303a/jdm7303a.htm

https://www.econtalk.org/peter-singer-on-the-life-you-can-save/

[i] Dabei ist anzumerken, dass es immer um Studien geht, bei denen eine Gruppe die erste Option und eine andere Gruppe die andere Option bekommt. Im direkten Vergleich ist natürlich jedem bewusst, was die rational richtige Entscheidung ist. Wenn die Dinge allerdings separat betrachtet werden, erkennt man den starken Einfluss unserer kognitiven Fehler.