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Helden, Normen und Tibet

„Die Herrschaft der Mönche in Tibet ist einmalig und läßt sich nur mit einer strengen Diktatur vergleichen. Mißtrauisch wachen sie über jeden Einfluß von außen, der ihre Macht gefährden könnte. Sie sind selbst klug genug, nicht an die Unbegrenztheit ihrer Kräfte zu glauben, würden aber jeden bestrafen, der Zweifel in dieser Richtung äußerte. So waren einige von ihnen mit dem Kontakt, den wir mit der Bevölkerung hatten, durchaus nicht einverstanden. Denn unser Verhalten, das von jedem Aberglauben unbeeinflußt war, mußte ja schließlich den Tibetern zu denken geben. Wir gingen nachts in die Wälder, ohne von den Dämonen bestraft zu werden, wir erkletterten Berge, ohne Opferfeuer zu brennen, trotzdem geschah uns nichts.“ – Heinrich Harrer in seinem Buch „Sieben Jahre in Tibet. Mein Leben am Hofe des Dalai Lama.“

Henrich Harrers autobiografisches Werk über Tibet zeigt unter anderem die unglaubliche Macht von Normen. In Tibet gab es beispielsweise keine traditionelle Polizei, Verbrecher wurden dafür umso härter bestraft – so schlug man besonders gerne Körperteile wie Hände, Füße oder Nase ab und kettete die Verbrecher für den Rest ihres Lebens an eine Fußfessel. Gleichzeitig konnten diese Menschen in der Gefangenschaft ziemlich gut leben – die Tibeter hatten Mitleid und waren sehr spendierwillig, wenn jemand um Almosen ansuchte.

Diese Normen werden in Harrers Buch unter anderem auch deswegen so klar, weil sie anders sind. Die eigenen Normen erkennt man meist nicht – wie der Name schon impliziert sind Normen dort, wo sie gelten, ganz normal und fallen deshalb nicht sonderlich auf. Wenn man dann über die Normen anderer Kulturen hört, kommt man aber aus Staunen und Entsetzen gar nicht mehr heraus.

Doch auch unsere Gesellschaft und Institutionen sind von Normen geprägt. Und auch für diese Normen gilt: Diejenigen, die von Normen profitieren, werden alles tun, um die Gültigkeit der Normen zu bewahren.

Eine besondere Gefahr stellen in diesem Zusammenhang Helden dar. Helden wie Heinrich Harrer, die in Tibet gegen die Regeln der Götter verstießen und dennoch nie bestraft wurden. Solche Helden untergraben nämlich die Normen und damit die Machtbasis der Normprofiteure.

Dass Helden so unerwünscht sind, stellt vielleicht einen Grund für ihren Mangel im Bewusstsein der heutigen Gesellschaft dar. So ein Held könnte Vitalik Buterin sein, der Gründer von Ethereum, welcher ohne fertige universitäre Ausbildung enorme wissenschaftliche Fortschritte im praktischen und theoretischen Bereich der Blockchain-Technologie geleistet hat. Doch Vitalik Buterin ist keine populäre Figur der Medien und auch keine Größe im wissenschaftlichen Bewusstsein. Würde seine Popularität doch bedeuten, dass manche den traditionellen Weg der Universität in Frage stellen und ihren eigenen Weg einschlagen.

Dabei wäre das Heldentum so wichtig – gerade in jungen Jahren. Helden, die Kinder motivieren, ins Weltall zu fliegen. Helden, die Kinder motivieren, Erfinder zu werden. Helden, die Kinder motivieren, ihren eigenen Weg zu gehen.

Anstatt Helden sind die meisten Vorbilder medial populäre Figuren. You-Tuber, Schauspieler, Sportler – vor diesen „Helden“ muss sich keine Norm fürchten, vor richtigen Helden schon.

Zum Weiterlesen:

Harrer, Heinrich: Sieben Jahre in Tibet. Mein Leben am Hofe des Dalai Lama. Berlin: 2011.