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Befehl, Opfergaben und die Flucht

Das Kommunikationsmittel des Befehls ist älter als die Sprache. Jedes Kind, das der Sprache nicht mächtig ist, aber auch Hunde und andere Lebewesen verstehen Befehle.

Der Befehl leitet sich – so die These von Elias Canetti in seinem Werk „Masse und Macht“ – von der Flucht ab. Ein Tier flüchtet vor dem Feind, weil es bedroht wird. Der Angriff des Feindes ist damit die ursprünglichste Form des Befehls. Dieser Zusammenhang wirkt auf den ersten Blick etwas weit hergeholt, doch tatsächlich hat der Fluchtbefehl viel mit den Befehlen unseres Alltags gemein.

Zum einen gibt es eine klare Hierarchie. Der Feind steht in Sachen Macht ganz eindeutig über seinem potentiellen Opfer. So auch beim Befehl.

Zum anderen gibt es Konsequenzen, falls der Befehl verweigert wird. Beim evolutionären Beispiel handelt es sich um die drastischste aller Konsequenz: den Tod. Doch auch der alltägliche Befehl funktioniert im Regelfall nicht ohne direkte oder indirekte Konsequenzen.

Aus dem evolutionären Phänomen des Fluchtbefehls leitet Canetti noch eine weitere Eigentümlichkeit der Menschen ab: das religiöse Opfer.

Wenn der Fluchtbefehl sich nicht an ein einzelnes Tier, sondern an eine ganze Herde richtet, so kommt es zu einer Massenangst. Die Tiere fliehen in der Masse. Sobald der Räuber aber eines der Tier erfasst – das Opfer -  wird er die Herde wieder in Frieden lassen.

„Hätten die Gazellen einen Glauben, wäre der Löwe ihr Gott, so könnten sie ihm, um seine Gier zu stillen, von sich aus freiwillig eine Gazelle ausliefern.“ – Elias Canetti in seinem Buch „Masse und Macht“

Genau dieses Phänomen spielt sich auch bei den Menschen ab. Ob Überschwemmungen, Erdbeben oder Krankheiten – all diese Phänomene richten sich an eine ganze Gruppe von Menschen. Sie versetzen diese Gruppe in Angst, ganz ähnlich der Massenangst der flüchtenden Tiere.

Nur wussten die Menschen in der Vergangenheit nicht, woher diese Phänomene stammen. Daraus entwickelte sich der religiöse Glaube. Genau wie die Massenangst bei den Tieren durch das Opfer eines Herdenmitglieds geheilt werden kann, greifen auch die Menschen auf religiöse Opfer zurück, um den Befehlen Gottes beziehungsweise seinen Strafen zu entgehen.

Zum Weiterlesen:

Canetti, Elias: Masse und Macht. München: 2020.