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Realitäten leben

Als Arthur Koestler am 9 Januar des Jahres 1944 seinen Essay „The Nightmare That Is a Reality“ publizierte, hielten viele US-Amerikaner den Holocaust für eine propagandistische Erfindung ihrer eigenen Regierung.

Millionen Menschen werden auf grausamste Weise ermordet und niemand – bis auf eine kleine Gruppe, zu der unter anderem Koestler gehört – will es wahrhaben.

Wie kommt das?[i]

Wir Menschen glauben in unterschiedlicher Intensität. Ich glaube sowohl, dass Gaius Iulius Caesar ein römischer Feldherr war als auch, dass Sebastian Kurz der aktuelle Bundeskanzler Österreichs ist. Mein Glaube an letztere Tatsache ist aber weitaus intensiver, da meine räumliche und zeitliche Distanz zu diesem Fakt viel geringer ist.

Es handelt sich bei beiden Tatsachen um die gleiche Art des Glaubens, ich glaube lediglich in unterschiedlicher Intensität.

 „Faced with the Absolute, understanding breaks down, and our “knowing” and “believing” become pure lip-service.” - Arthur Koestler in seinem Essay „The Nightmare That Is a Reality“.

Doch es gibt noch eine ganz andere Art des Glaubens. Es gibt Dinge, die wir nur oberflächlich wissen und glauben. Koestler nennt das Beispiel des eigenen Todes. Man weiß zwar, dass die eigene Lebenszeit begrenzt ist, würde man sich diesen Gedanken aber täglich auf tiefer Ebene ins eigene Gedächtnis holen, wäre es schwer den Alltag zu bewältigen.

„Thus we all live in a state of split consciousness. There is a tragic plane and a trivial plane, which contain. Two mutually incompatible kinds of experienced knowledge. Their climate and language are as different as Church Latin from business slang. These limitations of awareness account for the limitations of enlightenment by propaganda. People go to cinemas, they see films of Nazi tortures, of mass-shootings, of underground conspiracy and self-sacrifice. They sigh, they shake their heads, some have a good cry. But they do not connect it with the realities of their normal plane of existence.” - Arthur Koestler in seinem Essay „The Nightmare That Is a Reality“.

Wir Menschen haben also zwei Bewusstseinszustände – einen trivialen und einen tragischen Zustand. Triviales Wissen ist jenes Wissen, dass wir tatsächlich in unser Leben integrieren. Tragisches Wissen empfinden wir nur oberflächlich.

Ich weiß, dass jeden Tag Kinder auf dieser Welt verhungern. Doch dieses Wissen ist nicht wirklich real. Ich akzeptiere diese Realität nicht, wie ich die triviale Realität meines Alltags akzeptiere.

Woher ich weiß, dass ich diese Realität der verhungernden Kinder nicht akzeptiere?

Wenn jeden Tag Kinder vor meinen Augen verhungern würden, könnte ich mein Leben nicht so weiterleben, wie ich es aktuell lebe. Ich könnte nicht so denken, nicht so fühlen. Der Fakt, dass ich mein Leben lebe, wie ich es lebe, zeigt, dass dieses Wissen nicht real ist.

Hier also die entscheidende Frage: Wie kann ich eine Realität akzeptieren, wenn die Akzeptanz dieser Realität bedeutet, dass ich nicht mehr weiß, wie ich meinen Alltag leben soll?

Zum Weiterlesen:

https://sandhoefner.com/2019/01/27/on-disbelieving-atrocities/

[i] Diese Gedanken stammen aus dem anfangs genannten Essay von Koestler.