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Konsens, Rationalität, Kreativität

Die meisten Menschen treten radikalen Ideen und sonderbaren Innovationen mit sofortiger Ablehnung entgegen. Unsere gesellschaftliche Grundeinstellung gegenüber neuartigen Dingen ist alles andere als positiv.

Die Mehrheit überschätzt also den Wert des Konsenses und bremst innovative und neuartige Ideen.

Wer dieser Mehrheit nicht angehören will, hat zwei Optionen: die rationale Einschätzung oder die kreative Überschätzung.[i]

Die rationale Einschätzung ist kreativen und radikalen Ideen nicht zwingend negativ gesinnt. Zum einen sind revolutionäre Ideen in der Regel mit höherer Wahrscheinlichkeit falsch als richtig. Doch ein wirklich rationaler Denker fokussiert sich nicht nur auf die Wahrscheinlichkeit per se, er fokussiert sich auf den erwarteten Nutzen.

Eine Idee zu unterstützen, die mit 99 prozentiger Wahrscheinlichkeit falsch ist, im Ausnahmefall aber die Welt revolutioniert, kann einen enorm hohen erwarteten Nutzen haben.

Im Grunde handelt es sich bei dieser Option um das Modell der Risikokapitalgeber: Sie wissen, dass die meisten radikalen Ideen untergehen werden, investieren aber trotzdem, weil der erwartete Gesamtnutzen positiv ist.

Damit sein Modell funktioniert muss der Risikokapitalgeber aber nie auf den Erfolg einer einzigen Idee vertrauen, sondern sich lediglich auf den Erfolg der Gesamtheit verlassen.

Allerdings scheitert dieses Modell, wenn man seine Ideen nicht diversifizieren kann. Der Unternehmensgründer oder innovative Wissenschaftler muss also sehr wohl an den Erfolg seiner eigenen Idee glauben. Er muss seine eigene Idee überschätzen und den Konsens unterschätzen.

Richard Feynman berichtete, dass er immer absolut davon überzeugt war, auf dem richtigen Weg zu sein. Selbst wenn diese Überzeugung oft eine falsche Illusion war, stellte sie für ihn einen entscheidenden Antrieb dar.

Wer die Möglichkeit hat, seine Ideen breit zu diversifizieren, wird mit der rationalen Einschätzung ein sinnvolles Maß zwischen dem Innovativen und dem Konventionellen finden. Wer aber selbst mit wirklich kreativen und radikalen Ideen Erfolg haben will, wird an etwas kreativer sowie irrationaler Selbstüberschätzung nicht vorbeikommen.

Zum Weiterlesen:

https://juliagalef.com/2017/04/07/does-irrationality-fuel-innovation/

http://michaelnielsen.org/blog/is-there-a-tension-between-creativity-and-accuracy/

[i] Dieser Artikel entspringt einer Debatte zwischen Julia Galef und Michael Nielsen. Die beiden diskutierten, ob Rationalität sich negativ auf Kreativität auswirkt. In diesem Artikel setze ich die Argumente beider in einen gemeinsamen Rahmen, wodurch sich der scheinbare Konflikt ihrer Standpunkte eigentlich auflöst.