text

Geschichten – eine Wirtschaftsmacht

„Narrative economics, the study of the viral spread of popular narratives that affect economic behavior, can improve our ability to anticipate and prepare for economic events. It can also help us structure economic institutions and policy.” - der Nobelpreisträger Robert Shiller in seinem Buch “Narrative economics.”

Noch bevor Epidemie-Modelle zum populärsten Gesprächsthema der Medien geworden sind, hat sich der Ökonom und Nobelpreisträger Robert Shiller in seinem Buch „Narrative economics“ mit ihnen auseinandergesetzt. Allerdings hat sich Shiller weder mit Viren noch anderen Krankheiten beschäftigt, vielmehr interessiert ihn die virale Verbreitung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Narrativen.

Die wenigsten Konsumenten sind wirtschaftlich wirklich gut informiert. Dennoch müssen diese Konsumenten Entscheidungen über den Kauf eines neuen Autos, die Hortung von Lebensmitteln oder die nächste Urlaubsreise treffen. In diesen Entscheidungen sind also nicht die wirtschaftlichen Fakten ausschlaggebend, sondern vielmehr Narrative, die Aufmerksamkeit erregen und in der Gesellschaft weit verbreitet sind.

So ein Narrativ kann sich beispielsweise rund um den Zusammenbruch des Währungssystems entwickeln. In intensiven Wirtschaftskrisen kann das Narrativ des Mitleids sehr stark aufblühen, was dazu führt, dass Konsumenten aus Empathie zu verarmten Mitbürgern ihren Konsum reduzieren. Entscheidend ist jedenfalls, dass es sich dabei oft um Geschichten handelt, die vereinfacht sind und eher wegen menschlicher Psychologie als aufgrund ökonomischer Relevanz populär werden.

Was haben diese Geschichten aber mit Epidemie-Modellen zu tun?

Genau wie im mittlerweile weltweit bekannten SIR-Modell gibt es Individuen, die ein gewisses Narrativ betreffen könnte. Wenn sich beispielsweise eine Geschichte rund um das Thema der Inflation entwickelt, sind davon vor allem Menschen mit viel Geldvermögen oder hohen Krediten betroffen. Wenn nun eine neue Geschichte aufkommt, werden einige gefährdete Personen infiziert. Diese Infizierten, werden die Geschichte im Familienkreis, beim Stammtisch oder am Arbeitsplatz weitergeben und so neue Menschen mit dem Narrativ anstecken. Nach einer gewissen Zeit, werden die Personen aber wieder aufhören, darüber zu sprechen – sie sind also von der Geschichte geheilt und auf gewisse Zeit immun.

Es gibt nun Narrative, die sich sehr langsam ausbreiten - eine niedrige Transmissionsrate haben - dafür aber lange bestehen bleiben – die Genesungsrate ist also gering. Das beste Beispiel für derartige Narrative sind ökonomische Modelle oder wissenschaftliche Theorien. Die werden sich erstmals nur in Expertenkreisen verbreiten und oft erst zehn oder mehr Jahre später in Schulbüchern zu finden sein.

Genauso gibt es Narrative, die sich rasant ausbreiten, dann aber wieder recht schnell verschwinden. Solche Hype-Zyklen sind vor allem bei Technologie-Themen wie Künstlicher Intelligenz oder Kryptowährungen zu beobachten.

Genau wie Viren können auch Narrative mutieren. So hat Thomas Paine im 18. Jahrhundert ein bedingungsloses Grundeinkommen gefordert. Er ging nämlich davon aus, dass in Zukunft nur mehr Land wertvoll sein und Arbeitskraft massiv an Wert verlieren wird. Im 19. Jahrhundert wurde das Narrativ abermals populär. Es ging aber nicht mehr um Land, sondern um Maschinen, die Arbeiter ersetzen. Heute ist dieses Narrativ wieder populär. Es geht aber nicht mehr vorerst um Roboter und Maschinen, sondern vor allem um künstliche Intelligenz.

Neben der Transmissions- und Genesungsrate ist auch die Anzahl der Gefährdeten je nach Narrativ sehr unterschiedlich. Das bedeutet aber nicht unbedingt, dass ein Narrativ, welches alle betrifft, auch am stärksten wirkt. Selbst eine Geschichte, die nur einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung infiziert kann sich entscheidend auf die Wirtschaft auswirken. Ein Beispiel: Die Mitglieder einer religiösen Gruppierung entscheiden aufgrund religiöser Überzeugung, im nächsten Jahr so wenig zu konsumieren wie möglich. Je nachdem wie viele Mitglieder diese Gruppierung hat, kann sich das mehr oder weniger massiv auf das Wirtschaftswachstum auswirken.

Bei der Analyse davon, welche Geschichten das gesellschaftliche Bewusstsein und damit auch die Wirtschaft entscheidend beeinflussen werden, darf man also nicht nur beachten, worüber alle ständig reden. Es gibt auch sehr potente Narrativ-Epidemien, die kein konstantes Gesprächsthema sind und sich dennoch signifikant auf die Wirtschaft auswirken. Worauf man sich vor allem fokussieren muss sind zum einen Narrative, die eine klare wirtschaftliche Botschaft beinhalten. Zum anderen geht es um Narrative, die besonders auf die menschliche Psychologie zugeschnitten sind. Narrative, die die Menschen persönlich betreffen, ihre Identität oder Interessen ansprechen, sind also besonders viral.

Natürlich wirkt diese Analogie zwischen Krankheitsepidemien und der Verbreitung von Narrativen etwas weit hergeholt. Robert Shiller hat aber im Zuge seiner Forschungen die Popularität von diversen Geschichten untersucht und modelliert. Daraus ergeben sich Verlaufskurven, die von jenen der Virus-Infektionen im Grunde nicht zu unterscheiden sind.

Abgesehen davon geht es auch gar nicht so sehr darum, ob die Analogie zu 100 Prozent stimmig ist oder nicht. Es geht darum, die ökonomische Theorie zu ergänzen. Denn Narrative sind ein wichtiger Treiber unseres Handelns und damit auch Treiber der Wirtschaft. Wenn es Staaten schaffen, gegen wirtschaftlich schädliche Narrative anzukämpfen und der Bevölkerung Gegennarrative aufzuzeigen, kann das also ein immenser wirtschaftlicher Vorteil gegenüber anderen Nationen sein.

Zum Weiterlesen:

Shiller, Robert: Narrative economics. How stories go viral & drive major economic events. Princeton: 2019.