text

Entstehung von Heimat

Man kann Heimat ganz unterschiedlich definieren. Zum einen gibt es Makro-Formen der Heimat – beispielsweise ganze Städte oder Nationen – zum anderen gibt es Mikro-Formen der Heimat, wie die eigene Familie oder Clique.

Doch es gibt einen Faktor, der jeder Heimat gemein ist: Die Heimat ist ein Ort, an dem Banales verherrlicht und mystifiziert wird.

„Zum Beispiel: Das philosophische Institut, an dem italienische Croceschüler, deutsche Heideggerianer, portugiesische Orteguianer, ostjüdische Positivisten, belgische Katholiken und angelsächsische Pragmatiker teilnahmen, mußte sich japanischen Zenschülern, einem libanesischen Mystiker und einem chinesischen Schriftgelehrten öffnen, und es mußte einem westjüdischen Talmudisten einen Platz gewähren. Trotzdem jedoch begann es sich zu institutionalisieren. Die Aufnahme darin wurde immer schwerer. Es begannen sich Vorurteile zu kristallisieren. Das heißt, man begann, mit dem Errichten einer neuen Heimat Erfolg zu haben.“ - Vilém Flusser in seinem Text „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“.

Diesen Prozess der Heimatbildung, denn Vilém Flusser am Beispiel Brasiliens schildert, ist den meisten Menschen wohl aus ihrer eigenen Lebenserfahrung alles andere als fremd. Ob Freundeskreis oder Kollegium – viele Beziehungskreise werden auf Dauer für Außenstehende immer geschlossener. Und in vielen Fällen basiert diese Schließung auf den banalsten Dingen – auf Insidern, die der Neuankommende nicht versteht, auf ungeschriebenen Regeln, die der Neuankommende unabsichtlich missachtet.

„Die Enttäuschung mit Brasilien war die Entdeckung, daß jede Heimat, sei man in sie durch Geburt geworfen, sei man an ihrer Synthese engagiert, nichts ist als Sakralisation von Banalem; daß Heimat, sei sie wie immer geartet, nichts ist als eine von Geheimnissen umwobene Wohnung. Und daß man, wenn man die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit erhalten will, ablehnen muß, an dieser Mystifikation von Gewohnheiten teilzunehmen.“ - Vilém Flusser in seinem Text „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“.

Allerdings ist diese Tendenz zur Mystifikation von Gewohnheiten in den Mikro-Formen der Heimat – wie dem Freundeskreis oder der Familie – tendenziell weniger stark ausgeprägt als beispielsweise in der Makro-Heimat einer Nation.

Grunde dafür ist wohl, dass wir Banales glorifizieren, um es zu einer Gemeinsamkeit zu machen. Je größer und diverser die Mitglieder der Heimat, desto schwieriger wird es, tatsächliche Gemeinsamkeiten zu finden und deshalb ist der Bedarf an banalen Gemeinsamkeiten größer.

Zum Weiterlesen:

Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalsozialismus. Berlin: 2000. [i]

[i] Es handelt sich hierbei um einen Affiliate-Link. Wenn du dir das Buch über diesen Link bestellst, hilfst du indirekt, diese Website zu finanzieren - das Buch wird für dich dadurch aber um keinen Cent teurer.