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Migrant – ein Egoist

In meinem Artikel „Altlasten von Beziehungen“ habe ich mich damit beschäftigt, wie Migration die Fesseln von Charakteraltlasten lösen kann. Man befindet sich in einem vollkommen neuen Umfeld, kann die Klischees in bestehenden Beziehungen hinter sich lassen und authentische neue Beziehungen aufbauen.

Es handelt sich hierbei um einen Aspekt der migrantischen Freiheit. Denn der Migrant löst sich von vielen Ketten der Heimat, von Gewohnheiten und Traditionen und wird dadurch freier als der Einheimische.

„Ist etwa die Freiheit des Migranten, dieses über allen Orten schwebenden «Geistes», eine verantwortungslose, solipsistische Freiheit?“ - Vilém Flusser in seinem Text „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“.

Nun stellt der Philosoph Vilém Flusser aber eine ganz entscheidende Frage: Ist die Freiheit des Migranten eine egoistische Freiheit? Eine Freiheit auf Kosten der Heimat und ohne Verantwortung?

Vilém Flusser beantwortet seine eigene Frage mit einem klaren Nein.

Denn wie komme ich überhaupt zu meiner Heimat? Durch die Geburt – ich habe mir die Heimat also nie ausgesucht, die Ketten der Heimat sind Ketten, die ich nicht selbst gewählt habe.

Ganz anders steht es um die Immigration. Ich entscheide selbst, wann und wohin ich immigriere. Ich baue selbst neue Beziehungen auf – aus freiem Willen heraus und nicht einfach aufgrund meiner zufälligen Geburt.

„Ich bin nicht, wie der Zurückgebliebene, in geheimnisvoller Verkettung mit meinen Mitmenschen, sondern in frei gewählter Verbindung. Und diese Verbindung ist nicht etwa weniger emotional und sentimental geladen als die Verkettung, sondern ebenso stark, nur eben freier.“ - Vilém Flusser in seinem Text „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“.

Der freie Migrant ist nicht verantwortungslos oder überaus egoistisch – er sucht sich seine Verantwortung lediglich selbst aus.

Zum Weiterlesen:

Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalsozialismus. Berlin: 2000. [i]

 

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