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Absolute Moral & Fakultative Einhaltung

Moralische Werte, Normen und Regeln haben immer etwas Absolutes. Wenn eine Sache moralisch richtig ist, ist die andere falsch. Wenn eine Sache heute moralisch richtig ist, dann wird sie das auch morgen sein.

Trotz unserer absoluten Vorstellungen von Moral, sind wir Menschen sehr volatil, wenn es um das Einhalten von moralischen Standards geht. Moral ist für uns absolut, das Einhalten der Moral sehen wir in der Praxis eher fakultativ.

Diese Inkonsistenz ist in unserem Verhalten mit der Moral inhärent. Manche erklären diese Inkonsistenz damit, dass Moral grundsätzlich dem Eigeninteresse widerspricht, und wir darum ständig im Kampf zwischen Eigeninteresse und Moral sind.

Andere denken, dass Moral langfristig vorteilhaft ist, unsere psychologischen Denkfehler uns aber dazu führen, dass wir diese langfristigen Effekte oft für kurzfristige Vorteile eintauschen.

Aus evolutionärer Sicht hätten wir im Sinne der ersten Erklärung die Moral aber schon lange aufgegeben. Was dem Eigeninteresse schadet, kann sich evolutionär nicht durchsetzen. Im Sinne der zweiten Erklärung würden sich auf lange Sicht die langfristig orientierten Individuen durchsetzen, was zu einem absoluten Verständnis von Moral und auch einer absoluten Einhaltung der moralische Vorschriften führen würde.

Diese beiden Erklärungen halten einer genauen Überprüfung also nicht stand. Wie kann man nun aber aus evolutionärer Sicht die absoluten Moralvorstellungen gepaart mit einer sehr volatilen Einhaltung der moralischen Regeln erklären?

Genau mit dieser Frage haben sich David Lahti und Bret Weinstein in ihrem Paper „The better angels of our nature: group stability and the evolution of moral tension.“ auseinandergesetzt.

Grundsätzlich ist die Organisation in Gruppen eine der großen Stärken von uns Menschen. In Gruppen zu leben, hat sich bei uns als ein enormer evolutionärer Vorteil erwiesen.

Indirekte Reziprozität

Nun gibt es zwei Faktoren, die die Fortpflanzungsfähigkeit eines Individuums (also seine Fitness, um im Terminus der Evolutionstheorie zu bleiben) beeinflussen. Erstens gibt es den Wettbewerb der eigenen Gruppe mit anderen Gruppen und zweitens gibt es den Wettbewerb innerhalb einer Gruppe.

Die erste Priorität muss der Wettbewerb zwischen den Gruppen haben, da es hier ums nackte Überleben geht, darum überhaupt einmal an die nötigen Ressourcen zu gelangen. An zweiter Stelle, wenn die eigene Gruppe stabil ist und sich keinen Gefahren ausgesetzt sieht, steht der Wettbewerb innerhalb der Gruppe, wobei es vor allem um das Aufteilen der bestehenden Ressourcen geht.

David Lahti und Bret Weinstein gehen davon aus, dass es eine indirekte Reziprozität gibt. Wenn sich also jemand für das Interesse der Gruppe besonders stark einsetzt, wird sein Ansehen innerhalb der Gruppe steigen. Wie vorteilhaft diese indirekte Reziprozität ist, hängt von einigen Faktoren ab. Erstens von den Kosten, die man durch die jeweilige Handlung selbst erleidet sowie die Vorteile, die die Gruppe durch diese Handlungen bekommt. Zweitens von der Intensität, mit der die eigene Handlung von anderen wahrgenommen wird. Drittens von der Menge an Ansehen, welche man durch die Handlung dazugewinnt.

Stabilität der Gruppe

Der erste entscheidende Aspekt der Theorie führt die volatile Einhaltung moralische Normen auf die Stabilität der Gruppe zurück. Je stabiler die Gruppe, desto schwächer werden die Normen eingehalten.

Wenn sich die eigene Gruppe in starkem Wettbewerb mit anderen Gruppen befindet, hat man vor allem das Interesse, die eigene Gruppe zu schützen und vor dem Untergang zu bewahren. In diesem Umfeld wird man sehr genau beobachten, wie sich die anderen Gruppenmitglieder verhalten und auch selbst sehr genau beobachtet werden. Selbstloses Handeln wird also sehr stark wahrgenommen, was ein großer Faktor in Bezug auf die Vorteilhaftigkeit der indirekten Reziprozität ist. Außerdem haben selbstlose Handlungen in solchen Situationen den größten Effekt, da sich eine Alles-Oder-Nichts-Dynamik ergibt. In einer Phase des starken Wettbewerbs mit anderen Gruppen werden also selbstlose beziehungsweise moralische Werte besonders stark ausgeprägt sein, weil die indirekte Reziprozität in solchen Phasen sehr große Vorteile verspricht.

Wenn sich die eigene Gruppe hingegen in einer stabilen Lage befindet, wird man sich mehr auf die Verteilung innerhalb der Gruppe fokussieren, stärker seine Eigeninteressen verfolgen und sich auch weniger Gedanken darüber machen, ob auch jedes Gruppenmitglied ganz im Interesse der Gruppe handelt, da man es selbst nicht tut. In Phasen der hohen Stabilität der eigenen Gruppe wird die Einhaltung moralischer Normen also stark sinken.

Dieses Modell der Gruppenstabilität erklärt aus evolutionärer Sicht, wieso sich der Mix aus selbstlosem und egoistischem Verhalten immer wieder ändert. Das erklärt die stark variierende Einhaltung der moralischen Normen. Wozu braucht es aber die absoluten moralischen Normen überhaupt?

Absolutheit der Moral

Nach dem bisherigen Modell würde eine stabile Gruppe sich sehr schnell selbst destabilisieren, da alle, sobald Stabilität eintritt, vor allem im Eigeninteresse handeln. Wenn es nun durch irgendeinen extrinsischen Effekt wieder zu einem Angriff auf die Gruppe kommt, befindet sich diese in einer instabilen Lage. Auch kann ein zu starkes Verfolgen der Eigeninteressen dazu führen, dass sich die Gruppe im Zuge eines zu extremen internen Wettbewerbs selbst zerstört.

Bret Weinstein und David Lahti glauben, dass die Absolutheit der Moral, als Puffersystem fungiert. Um also zu verhindern, dass sich die Menschen in stabilen Phasen zu sehr auf das Eigeninteresse besinnen, werden die moralischen selbstlosen Normen als absolut dargestellt, womit man den Drang zum Eigeninteresse etwas dämpfen kann. Die moralischen Normen dienen also immer als eine Art Bremse vor übermäßigem Eigeninteresse, welches die Gruppe zu stark destabilisieren oder gar von innen heraus zerstören könnte.

Conclusio

Nach dem Modell von Lahti und Weinstein sind moralische Normen also deshalb absolut, weil sie die Menschen vor einem zu starken Eigeninteresse bremsen sollen, welches die Gruppenstabilität gefährden könnte. Das Einhalten der moralischen Normen hingegen ist nicht absolut, sondern fakultativ. Denn aus der Sicht der evolutionären Fitness ist es vorerst einmal wichtig, dass die eigene Gruppe überlebt. Wenn sich die eigene Gruppe in einer instabilen oder gar prekären Lage befindet, macht es evolutionär Sinn, sich stark auf das Wohl der Gruppe zu fokussieren. Wenn die eigene Gruppe hingegen stabil ist, kann man auch dem Eigeninteresse etwas mehr Raum geben.

Zum Weiterlesen:

https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1090513804000820