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Eindimensionales Funktionsverständnis

“And customs revenue is generally an important source of income for poor countries – sometimes accounting for over 50 per cent of their budget. Poor countries rely on customs revenue because it is easy to collect […]” – Jason Hickel in seinem Buch “The divide. A brief guide to global inequality and its solutions”.

Aus Sicht von Europäern und US-Amerikanern haben Zölle vor allem den Zweck, eigene Produzenten zu schützen oder anderen Staaten zu schaden, indem man sie mit Sanktionen in Form von Zöllen bestraft.

Wenn wir Zollfreiheit fordern, dann denken wir an diese Funktionsweise von Zöllen. Doch uns ist nicht bewusst, dass es sich hierbei um ein eindimensionales Funktionsverständnis handelt. In sehr armen Staaten sind Zölle nämlich eine tatsächliche Einnahmequelle. Zölle kann man leicht einheben, ganz im Gegensatz zu Einkommenssteuern, Mehrwertsteuern oder Kapitalertragssteuern. In einem von Schattenwirtschaft und dem informellen Sektor geprägten Staat haben die Behörden nämlich massive Schwierigkeiten klassische Steuern zu erfassen, geschweige denn sie einzufordern und so sind Zolleinnahmen eine notwendige Geldquelle.

„Der Drang zu Zwangsmaßnahmen in Sierra Leone war einer der Treiber der Verbreitung der Ebola-Epidemie.“ - Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen im Falter Podcast.

Wenn wir an häusliche Quarantäne-Maßnahmen denken, dann denken wir an eine unangenehme Situation, die sich niemand wünscht. Für 20 Tage in den eigenen vier Wänden gefangen zu sein, ist unangenehm aber akzeptabel, wenn man sich damit vor einer Krankheit oder Ähnlichem schützen kann. Auf Basis dieser Denkweise über die Funktion von Quarantänemaßnahmen bewerten wir auch die Anwendung dieser Maßnahmen in anderen Staaten. Dass es sich abermals um ein eindimensionales Funktionsverständnis handelt kommt uns dabei nicht in den Sinn.

In einem Land wie Sierra Leone bedeutet häusliche Quarantäne nämlich etwas ganz anderes als bei uns. Die Menschen haben meist keinerlei Nahrungsmittel auf Lager, viele haben nicht einmal Wasser zu Hause. 20 Tage in der eigenen Hütte zu überleben, ist also nicht möglich. Man ist angewiesen auf das Militär und die Polizei, die die Quarantäne kontrollieren. Und genau diese Parteien nutzen die Notlage der Menschen schamlos aus. Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen berichtet so im Falter Podcast, dass viele Menschen im Zuge der Ebola-Quarantäne in Sierra Leone nur durch Sex-Arbeit Nahrungsmittel vom Militär erhalten haben.

In diesen Ländern bedeutet also Quarantäne nicht wie bei uns Langeweile, sondern Lebensgefahr, Notlage und totale Abhängigkeit. Dass man mit solchen Maßnahmen in diesen Ländern entsprechend vorsichtiger sein muss als bei uns, muss klar sein. Es ist aber nicht klar, wenn man nur ein eindimensionales Funktionsverständnis besitzt.

Zum Weiterlesen und Weiterhören:

https://www.youtube.com/watch?v=ROmzwLaP8mE

Hickel, Jason: “The divide. A brief guide to global inequality and its solutions”. London: 2017.