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Privileg der Orthodoxie

Dies ist die übersetzte Version des englischsprachigen Artikels „Orthodox Privilege“ von Paul Graham, der im Juli 2020 erschienen ist.

In letzter Zeit wird viel über Privilegien gesprochen. Obwohl dieses Konzept etwas überstrapaziert wird, steckt durchaus ein Funke Wahrheit dahinter, insbesondere hinter der Idee, dass Privilegien einen blind machen – dass man Dinge nicht sehen kann, die für jemanden sichtbar sind, der ein ganz anderes Leben hat als man selbst.

Aber eines der weitest verbreiteten Beispiele von dieser Form der Blindheit ist eines, das ich noch nirgends explizit gehört habe. Ich werde es Privileg der Orthodoxie nennen: Je konventioneller Menschen denken, desto mehr haben sie das Gefühl, dass es für jeden sicher ist, seine Meinungen frei zu äußern.

Für sie selbst ist es sicher, ihre Meinungen zu äußern, denn die Quelle ihrer Meinungen besteht darin, was ein gesellschaftlich akzeptierbarer Standpunkt ist. Also scheint es für sie, also ob es für jeden sicher sei. Sie können sich tatsächlich keine wahrheitsgemäße Aussage vorstellen, welche sie in die Bredouille bringen könnte.

Und dennoch gab es zu jedem Zeitpunkt unserer Geschichte Wahrheiten, für deren Äußerung man in enorme Schwierigkeiten geraten wäre. Sind wir am ersten Punkt in der Geschichte, an welchem das nicht mehr so ist? Das wäre ein unglaublicher Zufall.

Sicherlich sollte die Grundannahme lauten, dass unsere Zeit nicht einzigartig ist und es wahre Aussagen gibt, die man aktuell nicht äußern kann – so wie es sie historisch gesehen immer gab. Das würde man meinen. Doch selbst in Anbetracht der überzeugenden historischen Faktenlage, berufen sich die meisten Menschen an dieser Stelle auf ihr Bauchgefühl.

Die Spektralsignatur des Privilegs der Orthodoxie lautet: „Warum sagst du es nicht einfach?“. Wenn es etwas gibt, das wahr ist, das Menschen nicht sagen können, warum bist du dann nicht mutig und sagst es einfach? Die extremeren Vertreter werden dir sogar unterschiedliche Formen der Ketzerei vorwerfen. Wenn es mehrere Formen der Ketzerei in deiner Zeit gibt, werden die Anschuldigungen nichtdeterministisch sein: Du musst entweder ein x-ist oder ein y-ist sein.

So frustrierend es auch sein mag, sich mit diesen Menschen herumzuschlagen, ist es wichtig, zu realisieren, dass diese Menschen das vollkommen ernst meinen. Sie täuschen nicht vor, zu glauben, dass es unmöglich für eine Idee ist, unorthodox und wahr zu sein. Für sie sieht die Welt so aus, als ob das so wäre.

Wie geht man mit dem Privileg der Orthodoxie um? Das Phänomen zu benennen ist ein erster Schritt, weil es einen daran erinnern wird, warum die Menschen mit denen man redet so irrational sind. Und zwar weil es sich um eine besonders hartnäckige Form eines Privilegs handelt. Menschen können die Blindheit der meisten Privilegien überwinden, indem sie darüber lernen, was ihnen fremd ist. Aber sie können das Privileg der Orthodoxie nicht überwinden, indem sie mehr lernen. Sie müssten unabhängiger denken. Falls das überhaupt passiert, passiert es nicht im Zeitraum eines einzigen Gespräches.

Es mag möglich sein, einige Leute zu überzeugen, dass das Privileg der Orthodoxie existiert, obwohl sie es nicht wahrnehmen können, genau wie man Leute von der Existenz schwarzer Materie überzeugen kann. Es mag beispielsweise einige geben, die man überzeugen kann, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass wir uns am ersten Punkt in der Geschichte befinden, an dem es nichts Wahres gibt, das man nicht sagen darf, selbst wenn sie sich keine spezifische Beispiele dafür vorstellen können.

Aber abgesehen von diesen Menschen, wird es bei diesem Privileg nicht möglich sein zu sagen „Beachte dein Privileg“. Denn Menschen mit diesem Privileg realisieren nicht, dass sie es besitzen. Für konventionelle Denker scheint es nicht so, als ob sie konventionelle Denker wären. Für sie sieht es einfach so aus, als ob sie Recht haben. Tatsächlich, sind sie besonders überzeugt davon.

Vielleicht ist die Lösung, auf Höflichkeit zu appellieren. Wenn jemand sagt, dass er einen sehr hohen Ton hören kann, den man selbst nicht hören kann, ist es höflich, ihn beim Wort zu nehmen, anstatt Beweise zu verlangen, die unmöglich herzustellen sind oder abzustreiten, dass er etwas hört. Wenn also jemand sagt, dass sie Dinge denkt, die wahr sind, die man aber nicht sagen kann, ist es nur höflich sie beim Wort zu nehmen, auch wenn man selbst keine derartigen Gedanken hat.

Wenn man einmal realisiert, dass das Privileg der Orthodoxie existiert, werden viele andere Dinge klarer. Wie kann es zum Beispiel sein, dass eine große Anzahl an intelligenten Personen sich über „Cancel Culture“ Sorgen macht, während andere intelligente Menschen abstreiten, dass es hier ein Problem gibt? Wenn man einmal das Konzept des Privilegs der Orthodoxie versteht, ist leicht zu durchschauen, was die Quelle des Konfliktes ist. Wenn man denkt, dass es nichts Wahres gibt, das man nicht sagen kann, dann hat jeder, der für etwas das er sagt Schwierigkeiten bekommt, es auch verdient.

Paul Graham

noah leidinger