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Wohnung nicht Heimat

In den Ohren der meisten Menschen hat der Begriff Heimat eine viel höhere Bedeutung und Wichtigkeit als der Begriff der Wohnung. In den Augen des Philosophen Vilém Flusser ist das ein Fehler.

„Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen.“ - Vilém Flusser in seinem Text „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“.

Denn der Mensch braucht keine Heimat, der Mensch kann frei herumreisen, ohne irgendeiner Nation, irgendeiner Heimat, anzugehören. Der Mensch braucht aber immer eine Wohnung, um zu überleben.

Vilém Flusser meint allerdings mit Wohnung nicht nur einen Raum, der unser grundlegendstes Bedürfnis einer warmen Unterkunft erfüllt – er meint damit auch einen Raum der psychologischen Sicherheit.[i]

„Ich bin in Redundanz gebettet, um Geräusche als Informationen empfangen und um Informationen herstellen zu können. Meine Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.“ - Vilém Flusser in seinem Text „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“.

Die Wohnung ist ein Ort der Gewohnheit, der mir erlaubt, mich auf Neues einzulassen. Die Gewohnheiten erlauben uns, sich auf das Neue zu konzentrieren. Würden wir unsere Umgebung jeden Tag von neu auf kennenlernen, so wäre für neue Informationen kein Platz.

Laut dem Philosoph Vilém Flusser läuft die Aufnahme neuer Informationen dabei in einem simplen ästhetischen Prozess ab.

„Die an die Wohnung herankommenden Geräusche sind häßlich, weil sie Gewohntes stören. Verarbeitet man sie zu Information, werden sie schön, weil sie in die Wohnung eingebaut werden. Dieses Schöne verwandelt sich durch Gewohnheit zu Hübschheit, denn es wird noch dumpf empfunden. Und schließlich stößt die Wohnung Überflüssiges als Abfall hinaus, und es wird häßlich.“ - Vilém Flusser in seinem Text „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“.

Neues wird also zuerst als hässlich, dann als schön, dann als hübsch und schließlich wieder als hässlich empfunden.

Zum Weiterhören und Weiterlesen:

https://www.youtube.com/watch?v=EL4njJyMMNE

Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalsozialismus. Berlin: 2000. [ii]

[i] Der Mathematiker Eric Weinstein schreibt dem Luxus eine ganz ähnliche Funktion zu. Der Luxus vermittelt unserem Gehirn ein Gefühl von Sicherheit und erlaubt uns so, Risiken einzugehen und frei zu denken.

„It has an evolutionary purpose, which is, it tells your brain that it is safe to think, to dream, to experiment.” – Eric Weinstein im Podcast „Into the Impossible”

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