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Labormäuse – verfälschte Evolution

In seinem 2002 publizierten Paper “The reserve-capacity hypothesis: evolutionary origins and modern implications of the trade-off between tumor-suppression and tissue-repair” stellt der Biologe Bret Weinstein eine neue Theorie zum Verhältnis der natürlichen Alterung und der Tumorprävention auf. Während das Paper schon alt ist und sich nicht mehr auf dem neusten Stand der Biologie befindet, kann man eine entscheidende Lehre daraus ziehen.

Hintergrund

Die Enden von eukaryotischen Chromosomen bestehen aus sogenannten Telomeren, welche sich bei jeder Zellteilung und damit jeder DNA-Replikation etwas verkürzen. Wenn die Telomere im Zuge des Alterns zu kurz werden, können sich die Zellen nicht mehr weiterteilen und so kann sich zerstörtes Gewebe nicht beziehungsweise nur mehr sehr langsam wiederaufbauen.

Telomerase sorgt für die Verlängerung der Telomere und ist so etwas wie ein Gegenspieler der natürlichen Verkürzung. Das Vorhandensein von Telomerase ist für die Bildung von Tumoren essentiell, da sie dem Krebs ermöglicht sich rapide zu teilen und damit zu vermehren.

Bret Weinstein sieht im System der Telomerverkürzung, die mit der Zellteilung einhergeht, vor allem den evolutionären Zweck, eine zu starke Tumorbildung zu verhindern. Dabei gehen kürzere Telomere auch mit einer schlechteren Selbstheilungsfähigkeit von Zellen einher.

Als Beispiel nennt Weinstein das Blutkreislaufsystem, welches nur eine sehr begrenzte Fähigkeit zur Selbstheilung hat und eine relativ hohe Anfälligkeit für Krankheiten, die durch natürliche Alterung entstehen. Gleichzeitig ist der Blutkreislauf eher unanfällig für Tumore. Dass sich selbst kleine Tumorgewächse im Blutkreislaufsystem besonders drastisch auswirken, kann der evolutionäre Grund dafür sein, dass hier mehr Priorität auf die Tumorprävention bei Inkaufnahme eines höheren Alterungsrisikos gelegt wurde.

Problematik

Schon seit Jahrzehnten gehören Labormäuse zu den beliebtesten Versuchstieren der Biologie. Labormäuse haben enorm lange Telomere – das wurde oft als Indiz dafür gesehen, dass eine Theorie wie die von Weinstein nicht richtig sein kann. Denn wieso soll dieser evolutionäre Mechanismus bei Mäusen nicht auch greifen?

Der Grund liegt darin, dass die Mäuse sich in den Laboren evolutionär entwickelt haben. Die Mäuse pflanzen sich nämlich nur in den ersten 8 Monaten fort, dann werden sie durch jüngere ersetzt, was eine besonders effiziente Fortpflanzung ermöglichen und mögliche altersbedingte Problematiken bei der Reproduktion verhindern soll. Das führt dazu, dass die Mäuse, die in diesen ersten 8 Monaten besonders gut in der Lage sind sich fortzupflanzen - also möglichst wenig altern und möglichst schnell heilen - immer stärker in der Labormauspopulation vertreten sind. Laut Weinstein sind das auch die Mäuse, welche anfälliger für Tumore sind. Allerdings spielt die Bildung von Tumoren in den ersten 8 Lebensmonaten keine große Rolle und damit ist das kein Faktor den die Evolution im Labor berücksichtigt.

Tatsächlich haben Tests bei normalen Mäusen ergeben, dass ihre Telomere im Schnitt ca. 1/10-mal so lange sind wie die Telomere bei Labormäusen. Auch altern die Labormäuse erstaunlich langsam und weisen wenige Altersschwächen auf. Dafür sind die Labormäuse aber viel anfälliger für Krebs.

Lehre

Daraus lassen sich zwei Lehren ziehen, die biologische Lehre von Bret Weinstein und eine methodische Lehre.

Bret Weinstein zieht daraus den Schluss, dass Tests von Stoffen an Labormäusen die Karzinogenität dieser Stoffe überschätzen, dafür aber andere Effekte, die beispielsweise mit den Prozessen der natürlichen Alterung zusammenhängen, unterschätzen.

Nun zur methodischen Lehre. Schon vor Bret Weinstein haben sich Wissenschaftler Gedanken über einen derartigen Zusammenhang gemacht. Die Telomerlänge der Labormäuse wurde aber immer als starker Widerspruch gesehen. Da alle wichtigen Forschungsinstitutionen auf die Mäuse einiger weniger großer Produzenten zurückgreifen, hat nie jemand hinterfragt, ob Mäuse tatsächlich so lange Telomere haben.

Die Telomerlänge von Mäusen ist ein Beispiel für wissenschaftlichen Konsens, der mehrfach empirisch belegt wurde und dennoch falsch war. Oft läuft Wissenschaft aber so ab, dass man auf dem Konsens und den Arbeiten der anderen aufbaut und das macht auch Sinn. Hin und wieder sollte man aber auch den grundlegenden Konsens hinterfragen und kann so auf wirklich disruptive Erkenntnisse stoßen.

Zum Weiterlesen und Hören:

https://universityobserver.ie/rats-out-animal-testing-may-have-fatal-flaw/

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11909679

https://podtail.com/en/podcast/the-portal/19-bret-weinstein-the-prediction-and-the-disc/