noah leidinger

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Palliativgesellschaft - Bucheinblick

Kernthesen & Argumente[i]

Wir leben in einer Gesellschaft der Algophobie – der Schmerzangst.

Die Gesellschaft der Algophobie – die Palliativgesellschaft - ist Resultat des Leistungsgedanken. „Die Palliativgesellschaft fällt mit der Leistungsgesellschaft zusammen.“

Der Treiber der Leistung ist die Idee des Glücks. Glück ist eine individuelle Angelegenheit.

Unzufriedenheit setzen die Menschen mit einem Mangel an Glück gleich. Da Glück eine individuelle Angelegenheit ist, führt uns Unzufriedenheit zur Introspektion. „So gibt es statt Revolution Depression.“

Die Algophobie führt schlussendlich zur Angst vor dem Tod. Wir ordnen alles dem Überleben unter – auch das Leben an sich. „Die Gesellschaft des Überlebens verliert ganz den Sinn für das gute Leben. Auch der Genuss wird für die zum Selbstzweck erhobene Gesundheit geopfert.“

Mit dem Schmerz verlieren wir das wahre Glück. „Wird der Schmerz unterbunden, so verflacht das Glück zu einer dumpfen Behaglichkeit.“

Mit dem Schmerz verlieren wir die Wahrheit. Leid und damit Schmerz sind ein Zeichen von Realität.

Mit dem Schmerz verlieren wir wahrhaftige Bindungen – denn wer tiefe Bindungen eingeht, nimmt das Risiko eines tiefen Trennungsschmerzes in Kauf.

Mit dem Schmerz verlieren wir den geistigen Fortschritt. Der Geist entwickelt sich erst im schmerzhaften Verarbeiten von Widersprüchlichkeiten. „Der Schmerz ist der Motor der dialektischen Bildung des Geistes.“

Der Schmerz ist essentieller Bestandteil unserer Existenz. Wir können versuchen ihn einzudämmen, werden ihn aber doch nie ganz loswerden. Entweder verschieben wir ihn, oder unsere subjektive Wahrnehmung empfindet selbst den kleinsten Schmerz als gigantische Qual.

Zitate

„Heute herrscht überall eine Algophobie, eine generalisierte Angst vor Schmerzen. Auch die Schmerztoleranz sinkt rapide. Die Algophobie hat eine Daueranästhesierung zur Folge. […] Die Algophobie verlängert sich ins Gesellschaftliche. Konflikten und Kontroversen, die zu schmerzhaften Auseinandersetzungen führen könnten, wird immer weniger Raum gegeben. Die Algophobie erfasst auch die Politik. Konformitätszwang und Konsensdruck nehmen zu.“

„Jeder muss sich selbst ums Glück kümmern. Es wird eine Privatangelegenheit. Auch das Leiden wird als Resultat eigenen Versagens interpretiert. So gibt es statt Revolution Depression. Während wir an eigener Seele herumdoktern, verlieren wir die gesellschaftlichen Zusammenhänge aus dem Blick, die zu sozialen Verwerfungen führen. Wenn Ängste und Unsicherheiten uns quälen, machen wir nicht die Gesellschaft, sondern uns selbst dafür verantwortlich. Das Ferment der Revolution ist aber der gemeinsam empfundene Schmerz.“

„Ins heroische Weltbild gehört notwendig der Schmerz. In einem mit Der Gegenschmerz betitelten futuristischen Manifest von Aldo Palazzeschi heißt es: »Je größer die Menge an Lachen ist, die ein Mensch im Schmerz zu entdecken vermag, um so tiefgründiger ist dieser Mensch. Man kann nicht aus innerstem Herzen lachen, wenn man nicht vorher tief im menschlichen Schmerz gegraben hat.«“

„Dem Kampf ums Überleben ist die Sorge ums gute Leben entgegenzusetzen. Die von der Hysterie des Überlebens beherrschte Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Untoten. Wir sind zu lebendig, um zu sterben und zu tot, um zu leben. In der ausschließlichen Sorge ums Überleben gleichen wir dem Virus, diesem untoten Wesen, das sich nur vermehrt, das heißt überlebt, ohne zu leben.“

„Es ist gerade der Schmerz, der das Glück vor Verdinglichung schützt. Und er verleiht ihm eine Dauer. Der Schmerz trägt das Glück. Das schmerzliche Glück ist kein Oxymoron. Jede Intensität ist schmerzhaft. Die Passion verbindet Schmerz und Glück. Das tiefe Glück enthält ein Moment des Leidens.”

„Schmerz ist Bindung. Wer jeden schmerzhaften Zustand ablehnt, ist bindungsunfähig. Intensive Bindungen, die schmerzen könnten, werden heute gemieden.“

„Auf seinem Bildungsweg gerät der Geist mit sich selbst in Widerspruch. Er entzweit sich. Diese Entzweiung, dieser Widerspruch schmerzt ihn. Aber der Schmerz sorgt dafür, dass der Geist sich bildet. Die Bildung setzt die Negativität des Schmerzes voraus. Der Geist überwindet den schmerzenden Widerspruch, indem er sich zu einer höheren Form entwickelt.“

„Die Menschen sind heute wohl am »Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom« erkrankt. Die Paradoxie dieses Schmerzsyndroms besteht darin, dass man unter immer weniger immer mehr leidet. Der Schmerz ist keine objektiv feststellbare Größe, sondern eine subjektive Empfindung. Zunehmende Erwartungen an die Medizin, gepaart mit der Sinnlosigkeit des Schmerzes, lassen selbst geringere Schmerzen als unerträglich erscheinen. Und wir haben keine Sinnbezüge, keine Narrative, keine höheren Instanzen und Zwecke mehr, die den Schmerz überspannen und erträglich machen würden. Verschwindet die schmerzende Erbse, so beginnen die Menschen unter weichen Matratzen zu leiden. Es ist ja gerade die persistierende Sinnlosigkeit des Lebens selbst, die schmerzt.“

Kritik

Byung-Chul Han ist mit seinem Essay „Palliativgesellschaft: Schmerz heute“ ein sehr anregendes Werk gelungen. Anregend im wahrsten Sinne des Wortes – die 87 Seiten des Textes sind voll von prägnant formulierten und provokativen Ideen.

Meines Erachtens aber auch anregend im Sinne: Such dir deine Argumente selbst. Der Text ist durchaus schlüssig, präsentiert aber keine dichte Argumentationskette, welche die Thesen des Philosophen stützt.

Teilweise treibt Byung-Chul Han die Provokation zu weit, wenn er beispielsweise das Homeoffice mit den Arbeitslagern vergangener Zeiten gleichsetzt: „Das neoliberale Arbeitslager in Zeiten der Pandemie heißt »Homeoffice«. Nur die Ideologie der Gesundheit und die paradoxe Freiheit der Selbstausbeutung unterscheiden es vom Arbeitslager des despotischen Regimes.“

Dennoch absolut lesenswert. Auch aus ökonomischer Sicht – sind die Opportunitätskosten bei 87 Seiten ja weitaus geringer als bei den meisten anderen Büchern.

Zum Weiterlesen:

Han, Byung-Chul: Palliativgesellschaft: Schmerz heute. Berlin: 2020. [ii]

[i] Alle Zitate in diesem Artikel stammen von Byung-Chul Han und seinem Buch „Palliativgesellschaft: Schmerz heute“.

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